Lotta Bartoschewski & Sophia Domagala, Text zur gleichnamigen Ausstellung im adad project Space, Hannover, 2021
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Weltaneignung von Laura Helena Wurth
Eigentlich haben wir alles überholt. Alles ist “Post” - also bereits danach. Post-Internet, Postkapitalismus, Postmoderne. Waren wir zu langsam? Können wir einer Welt, von der wir denken, dass sie sich immer schneller dreht, nur noch begegnen, indem wir auch immer schneller werden? Noch effizienter und rigoroser Dinge abarbeiten? Nur wenn wir wachsen, können wir überleben, schreit der neoliberal entfesselte Markt, der uns umgibt. “Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung” skandiert hingegen der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch “Resonanz - Eine Soziologie der Weltbeziehung”. Dabei stellt er die These auf, dass “ein zielloser und unabschließbarer Steigerungszwang (...) am Ende zu einer problematischen, ja pathologischen Weltbeziehung (...)” (S.14) führt. Denn wo soll sich der Mensch verorten, wenn er bemerkt, dass immer höher, schneller und weiter keine attraktiven Kategorien mehr sind? Dem Begriff der “Weltaneignung” im Sinne von Hartmut Rosa gehen die beiden Künstlerinnen Lotta Bartoschewski und Sophia Domagala in ihrer gleichnamigen Ausstellung nach. Denn jedes Kunstwerk ist immer auch der Versuch, sich in der Welt zu verorten und die genauen Koordinaten, zwischen denen man sich bewegt, zu bestimmen. Gleichzeitig eignet man sich über die Kunst, über die Tatsache, dass man etwas produziert, die Welt an und entzieht sich dem genannten Steigerungsdrang - weil die Dinge, die man produziert, keiner marktinhärenten Logik unterworfen sind. Dabei nutzt Lotta Bartoschewski oft Gegenstände, die nicht nur keiner marktinhärenten Logik unterworfen sind, sondern solche, die wir sonst verstoßen würden: Alte Zeitungen, Centmünzen, die man ewig sammelt, nur um sie doch nie zur Bank zu bringen, alte Zeitungen mit dem Neuesten von gestern.
Hier in Hannover scheint über dem Boden ein gleichschenkliges Dreieck zu schweben. Es lädt den Besuchenden ein, sich zu ihm zu verhalten. Man muss sogar. Dadurch, dass sich das Dreieck mitten in den Raum legt, muss man sich zu ihm in Verbindung setzen: Geht man drum herum? Steigt man darüber? Es ist ein wechselseitiges Spiel zwischen Körper und Raum, das sich in dieser Erzählung auftut. Die Oberfläche der Gips-Skulptur, die speziell für den Raum angefertigt wurde, zeigt die Negativabdrücke der Gussformen, deren inneres Bartoschewski bemalt und ausgekleidet hat. Dabei nimmt der Gips alles wahr und bildet alles, was man vorher eingespeist hat, genauestens ab. Was sich dann im Gips zeigt, sind die spiegelverkehrten Zeugen menschlichen Handelns. Jeder Fingerabdruck und jede Faser sind sichtbar. Wie Schmuck versammeln sich Centmünzen auf dem Gebilde und erzählen durch die Bilder, die ihnen eingeprägt sind ganz eigene Geschichten von Wertkreisläufen und den Bedeutungen, die man ihnen zuschreibt. Eine weitere Skulptur, ein rechteckiger Rahmen, der zurückgezogen in der Nische des Raumes lehnt, zeigt Abdrücke von Zeitungsausschnitten. Sie ziehen ihre Existenzberechtigung nicht mehr aus der Neuigkeit, die sie verkünden, sondern nur noch daraus, dass man sie anderweitig verwenden kann. Auch sie sind durch das Abdruckverfahren nur spiegelverkehrt zu erkennen. Bartoschewski setzt sie in einen anderen Kontext und gibt ihnen eine neue Daseinsberechtigung. Eine, die nicht mehr an Nützlichkeit und Effizienz gekoppelt ist.
Die Streifenbilder von Sophia Domagala verorten sich anders. Sie sind eine endlose Abfolge von Wiederholungen und der immer gleichen Gesten, die sich nur durch kleine Unterbrechungen aufweichen. Die Linie als einfachste und universellste Form, aber auch als die größte und radikalste Herausforderung. Denn keine frei gemalte Linie wird je perfekt sein. Schon der Versuch ist zum Scheitern verurteilt.
Sie wirken wie ein Raster, durch das sich ein Fenster zur Welt ergibt. Etwas, das die Haupthandlung einrahmt und ihr eine Bühne bietet. Der Zwischenraum wird zum unendlich erweiterbarer Resonanzkörper. Domagala dekliniert den Streifen wie ein Wort einmal durch. Gab es früher manchmal noch Schrift in ihrer Arbeit, sind sie hier den Streifen gewichen, die nun die Aufgabe der Korrespondenz mit dem Betrachtenden übernehmen. Denn besteht Schrift nicht im Grunde nur aus einer Aneinanderreihung von Streifen und Linien? Domagala erforscht die vertikale Linie konsequent in verschiedenen Zuständen: über einen Zeitungsausschnitt gelegt, als Wandmalerei oder auf der Leinwand. Überall eröffnen sie Räume und treten in direkte Korrespondenz mit dem Betrachtenden. Auch weil in jedem Streifen eine neue Chance, ein neuer Versuch liegt. Alle sind gleich und jeder ist anders.
Da, wo Bartoschewskis Arbeit sich im Raum aufbaut und in einer spielerisch einladenden Geste zum Handeln zwingt, erschließt sich bei Domagala der Raum über die Wiederholung. Die Arbeiten beider Künstlerinnen funktionieren hier als Resonanzraum, in dem man sich in Bezug zur Welt setzten kann. Gerade deswegen ist es interessant sie gemeinsam zu betrachten. Wenn man es herunterbrechen wollte, könnte man sagen: Bartoschewski arbeitet disruptiv, Domagala repetitiv. Laut Rosa hält Kunst “den Sinn dafür offen (...), dass eine andere Weltbeziehung möglich ist” (S.495). Man erfährt also wie unterschiedlich man sich diese Welt aneignen, wie man ihr begegnen und wie man mit ihr in Korrespondenz treten kann. Ganz ohne Beschleunigung, sondern einzig mit der Fähigkeit, sich in der Betrachtung versenken zu können. Denn wenn Nas fragt, “Whose World is this?”, dann ist die einzig richtige Antwort eine, die auch Rosa gefallen würde: “The world is yours, the world is yours - It's mine, it's mine, it's mine”.
Weltaneignung (World Appropriation)
We have essentially overtaken everything. Everything is “post”—that is, already afterward. Post-internet, post-capitalism, post-modernism. Were we too slow? Are we only able to face a world that we think is spinning faster and faster by becoming faster and faster ourselves? By processing things even more efficiently and rigorously? Only by growing can we survive, cries the unfettered neoliberal market that surrounds us. “If acceleration is the problem, then resonance may be the solution,” proclaims Hartmut Rosa, however, in his book Resonance—A Sociology of our Relationship to the World. He postulates the hypothesis that “an aimless and interminable compulsion to increase […] ultimately leads to a problematic, even pathological relationship to the world […].” For where should we position ourselves once we realize that higher, faster, and further are no longer attractive categories? The artists Lotta Bartoschewski and Sophia Domagala explore Hartmut Rosa’s concept of “world appropriation” in their exhibition of the same name, Weltaneignung. After all, every work of art is always an attempt to situate ourselves in the world and to determine the exact coordinates between which we operate. At the same time, we appropriate the world through art, through the fact that we are producing something, and evade this aforementioned urge for more—because the things that are being produced here are not subject to any market-inherent logic. Lotta Bartoschewski often uses objects that are not only unconstrained by any market-inherent logic, but also those that we would otherwise reject: one-cent coins that we have been collecting forever, only to never get round to taking them to the bank, old newspapers with yesterday’s news.
Here in Hanover, an isosceles triangle seems to float above the ground. It invites visitors to react to it—makes them, even. Because the triangle is placed in the middle of the space, they have to respond to it: Do they walk around it? Do they step over it? This narrative opens up a reciprocal game between body and space. The surface of the plaster sculpture, made especially for the space, reveals the negative imprints of the molds, whose interior Bartoschewski painted and lined. The plaster records everything, accurately reproducing all the information fed to it previously. What is then depicted in the plaster is the mirrored trace of human activity. Every fingerprint, every fiber is visible. One-cent coins are gathered on the structure like jewelry; through the images imprinted on the coins, they tell their own stories of the circulation of value and the meanings attributed to them. Another sculpture, a rectangular frame leaning in a recessed alcove, features imprints of newspaper clippings. Their raison d’être is no longer drawn from the news they proclaim, but from the fact that they can be used in a different way. They, too, are only recognizable in their mirrored form due to the printing process. Bartoschewski places them in a different context and gives them a new purpose, one that is no longer linked to usefulness and efficiency.
Sophia Domagala’s striped paintings are positioned differently. They are an endless sequence of repetitions and the same gestures, softened only by small discontinuities. The line is the simplest and most universal form, yet also the greatest and most radical challenge. For no freely painted line will ever be perfect; even the attempt is doomed to fail.
They act like a grid through which a window to the world emerges. Something that frames the main action and offers it a stage. The space in between becomes an infinitely expandable resonating body. Domagala contemplates each stripe thoroughly, like a word. While there was sometimes writing in her work in the past, it has given way to stripes here, which now take on the task of corresponding with the viewer. For isn’t writing ultimately stripes and lines strung together? Domagala systematically explores the vertical line in various states: laid over a newspaper clipping, as a wall painting, or on canvas. In each instance they establish new spaces and enter into direct correspondence with the viewer. In each stripe lies a new chance, a new attempt. All are the same yet each one is different.
While Bartoschewski’s work is established in the space and urges action in a playfully inviting gesture, space is revealed in Domagala’s work through repetition.
The works of both artists function here as a resonance space in which we can relate to the world. That is precisely why it is interesting to look at them together. If you wanted to break it down, you could say: Bartoschewski works disruptively, Domagala repetitively. According to Rosa, art “keeps your mind open to the fact […] that another relationship to the world is possible.” We thus learn the different ways in which we can appropriate this world, how we can encounter it, and how we can enter into correspondence with it. Without any acceleration, only the ability to immerse ourselves in contemplation. Because when Nas asks, “Whose world is this?,” the only correct answer is one that Rosa would also like: “The world is yours, the world is yours—It’s mine, it’s mine, it’s mine.”